Antonia Grunenberg

Macht kommt von möglich.....

Macht und öffentlicher Raum bei Hannah Arendt 1

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Auf eine ungeahnte und noch nicht recht wahrgenommene Weise strahlt der Zeitsprung, der mit den Revolutionen von 1989 stattfand, auch auf den Westen aus. Hatte es anfangs den Anschein, als sei die Unruhe, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks entstand, mit dem Beharren auf Kontinuität und Sicherheit erfolgreich zu bannen, so ist heute deutlich geworden, daß die Veränderungen, die auf den Westen zukommen, viel weitgreifender sind als ursprünglich angenommen.
Angesichts der Wiederkehr begrenzter Kriege auf dem europäischen Kontinent haben sich auch die Koordinaten des politischen Denkens verschoben. Die Öffentlichkeiten in den westlichen Ländern sind in eine Diskussion über die Möglichkeiten und die Grenzen von Politik mehr hineingezogen worden, als daß sie sie gesucht hätten. Dabei wird offensichtlich, daß sich politisches Denken und Handeln heute zwischen Begriffen und Kontexten bewegt, die vieldeutig geworden und den neuen Verhältnissen nicht angemessen sind, ohne daß Alternativen schon zu erkennen wären. Fortschritt und Entwicklung - Begriffe der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts - gelten auch weiterhin als Rahmenbegriffe des politischen Denkens, auch wenn der Glaube an den linearen Verlauf einer Fortschrittsgeschichte inzwischen vielfach angezweifelt wird.
Sowohl auf der Rechten wie auf der Linken gewahrt man die Tendenz, sich in Zeiten der Unsicherheit eher an Bewährtes zu halten, als ungewisses Neuland zu betreten. So mag es nicht verwundern, daß auf der Rechten im Zeichen der neuen Unsicherheit in Europa Begriffe wie nationales Selbstbewußtsein ebenso wie Schicksal, Volk, Krieg und Geopolitik als Verständnishorizonte mobilisiert werden, deren nationalistischer (und rassistischer) Kontext in den vergangenen fünfzig Jahren in den Hintergrund getreten zu sein schien. Teile der Linken antworteten auf den Zusammenbruch des Sozialismus und die deutsche Einigung mit panischen Reaktionen des Dagegenseins und auf neonazistische Umtriebe mit der Mobilisierung alter Kampfstrategien (Antifaschismus). Doch erscheinen die traditionellen Kategorien des politischen Lagerdenkens auf seiten der Linken als ebenso unzureichend wie die Versuche, wieder ein rechtes Lager zu etablieren und die ideologischen Waffen des alten Nationalstaats auszugraben.
In der sogenannten praktischen Politik besteht ein hohes Maß an Orientierungsbedürfnis. Es ist kein Zufall, daß der CDU-Politiker Heiner Geißler in seinem jüngsten Buch mehrfach anmahnt, Politik müsse wieder zu Inhalten finden, Demokratie müsse Streitkultur sein u.a.m. 2 Fragen wie: Wo steht die Politik eigentlich nach dem Ende der Blockspaltung?, finden sich quer durch alle Parteien. 3 Im erweiterten Europa ist ein Orientierungs-Vakuum entstanden, das mit diffusen Inhalten gefüllt wird. Welche Politik ist den ungleichen Zeiten und Kulturen, die Europa prägen, angemessen? Welche Arten von politischen Gemeinwesen entstehen aus dem zusammengebrochenen totalitären Reich? Fragen wie diese sind mit den herkömmlichen Mitteln einer Politik, die ihre Aufgabe in der Verwaltung und Bewahrung der bestehenden Ordnung sieht, nicht zu verstehen. Einigen scheint zu dämmern, daß ein Neuanfang stattgefunden hat, den man aber nicht wie gewohnt definieren oder gar beherrschen kann. Der öffentliche Diskurs über Politik verläuft wie gewohnt; und doch hat - eher beiläufig als direkt erklärt - eine Sinnsuche im öffentlichen Raum begonnen, die dessen große Bedeutung für die Politik überhaupt erst wieder ins Licht rückt.
Es ist kein Zufall, daß in dieser Situation eine Denkerin erneut an Aufmerksamkeit gewinnt, die weite Teile ihres Schaffens dem Nachdenken darüber gewidmet hat, was Politik und was politisches Denken und Handeln sei, und die die überragende Bedeutung des öffentlichen Raums für das Gemeinwesen immer wieder hervorgehoben hat.
Hannah Arendts bekanntestes Buch Elemente und Ursprünge des Totalitarismus (1951) gründete auf der These, daß der Totalitarismus als doppelläufige Abwehrbewegung (in Form von Rassismus bzw. Nationalsozialismus und Leninismus bzw. Stalinismus) gegen Massengesellschaft und westliche Demokratie nur deshalb so erfolgreich gewesen sei, weil er auf die Zerstörung des öffentlichen Raums gezielt habe. Totalitäre Gewaltherrschaften paralysierten - so Hannah Arendts These - jeden Raum für gesellschaftliche Tätigkeit. Individuen würden zu gleichermaßen ohnmächtigen wie verfügbaren Schachbrettfiguren; letztlich werde jede Individualität zerstört. Was einmal Gesellschaft gewesen sei, sei nur noch ein Konglomerat atomisierter Individuen. Den Umstand, daß die europäischen liberalen Staats- und Gesellschaftsordnungen dem Ansturm der totalitären Parteien und Bewegungen nichts entgegenzusetzen hatten, führte Arendt vor allem auch auf die Schwäche und Ungeschütztheit des öffentlichen Raums zurück. Die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen und deren Unverstehbarkeit bewegte sie zugleich, nach den Bedingungen und Möglichkeiten politischen Denkens und Handelns in der Moderne zu fragen. So begann sie, jenen Raum der Freiheit gedanklich abzuschreiten, der in der griechischen Antike und in den europäischen Revolutionen und Verfassungen des 17. und 18. Jahrhunderts geschaffen worden, aber im Laufe der Jahrhunderte wieder verlorengegangen war.
Die Katastrophenerfahrung des Nationalsozialismus und des Stalinismus, deren Besonderheit aus ihrer Sicht eben war, daß sie in allen nachfolgenden Phasen, Bewegungen und Ordnungen präsent sind - und zwar nicht nur als Erbe, sondern als Erfahrungsraum -, diese Katastrophenerfahrung war seit den vierziger Jahren mehrfach zum Anlaß einer grundsätzlichen Kritik an der Moderne genommen worden. So waren die exilierten Frankfurter Sozialwissenschaftler Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrem Buch»Dialektik der Aufklärung« (1944) folgender Frage nachgegangen: 4 Wenn es stimme, daß dem modernen Liberalismus der Faschismus als Möglichkeit innewohne, 5 dann sei nicht einfach eine Rückkehr zu den Werten des Humanismus und der Aufklärung einzuklagen. Die Kritik der Moderne (und des Liberalismus) mündete bei ihnen in einer Infragestellung der Säkularisierung seit dem 17. Jahrhundert und letztlich im Zweifel an der Humanität des durch die Aufklärung freigesetzten neuzeitlichen Zivilisationsverständnisses. Arendt hatte die gleiche Frage anders gestellt. Ihr kam es darauf an zu verstehen, warum die europäischen Gesellschaften vor der Zerstörungswut der nationalsozialistischen bzw. faschistischen Bewegungen oder des stalinistischen Parteiapparats so kläglich zusammengebrochen waren, und sie wollte dies nicht nur ideengeschichtlich, sondern politisch diskutieren. Ihre These lautete, in der politischen Tradition der Moderne sei der öffentliche Raum für politisches Denken und Handeln nicht ausreichend geschützt worden, weil das Wissen um seine Bedeutung für ein politisches Gemeinwesen verlorengegangen sei. Daher habe keine politische Macht mehr existiert, die den Widerstand der Bürger gegen den Totalitarismus hätte ermutigen können. Macht - verstanden als politische Macht - ist daher für Arendt einer der Schlüsselbegriffe für den öffentlichen Raum. Für sie ist politische Macht zentral für das Verständnis politischen Handelns und für den Sinn von Politik. Nur an dieser spezifisch politischen Macht ist sie interessiert, weniger an der ideologischen, der ökologischen oder der patriarchalen Gewalt. 6

Was Hannah Arendt unter Macht versteht, setzt sich aus einer Vielzahl von Konnotationen zusammen und beruht auf ihrem Verstehen von Politik. Die verwandten Begriffe zu Macht heißen: Beziehung, Zufall, Gebürtlichkeit, Sterblichkeit, Handeln und Freiheit. Während Macht und Freiheit nahezu synonym sind, da beide einander freisetzen und bedingen, ist das Handeln, aus dem Macht und Freiheit hervorgehen, von der Tatsache der Gebürtlichkeit und der Sterblichkeit geprägt. Beziehungen zwischen sterblichen Menschen - in denen Möglichkeiten des Handelns verborgen lägen - sind für Arendt das einzig dauerhafte Element in politischen Gemeinwesen. Nur die immer wieder erneuerten Beziehungen zwischen Bürgern bürgten dafür, daß das politische Gemeinwesen nicht stürbe. Hinter dieser Anlehnung an den Aristotelischen Gedanken von der Begrenztheit des politischen Raums ist zugleich eine Absage an das seit dem 17. Jahrhundert prägende Fortschrittsparadigma formuliert. Modernes Denken rechnet mit der Unbegrenztheit des dem Fortschritt und der Zukunft zur Verfügung stehenden Raums. Arendts Kritik zielt auf die Ausgestaltung des öffentlichen politischen Raums der Jetztzeit, der geprägt ist durch die Zufälle von Geburt und Tod. Die in diesem Raum geknüpften Beziehungen, aus denen öffentliches, kommunikatives Denken und Handeln hervorgeht, stellen die Macht eines Gemeinwesens dar.»Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent als die Gruppe zusammenhält.« 7
Das einvernehmliche Zusammenschließen und die Gemeinsamkeit des Handelns sind zwei Elemente, die konstitutiv sind für das Arendtsche Verstehen von Macht als gesellschaftliches Vermögen - im Unterschied zu Macht als Verfügungsgewalt. Macht ist also nicht etwas, was man macht. Nicht umsonst führt Arendt die etymologischen Wurzeln des Wortes ins Feld, das sich von möglich, aber nicht von machen ableitet. Macht ruft einen Erscheinungsraum hervor.»Macht ist, was den öffentlichen Bereich, den potentiellen Erscheinungsraum zwischen Handelnden und Sprechenden überhaupt ins Dasein ruft und am Dasein erhält .(...) Macht ist immer ein Machtpotential und nicht etwas Unveränderliches, Meßbares, Verläßliches wie Kraft oder Stärke. (...) Macht besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.« 8 Macht schaffen bedeutet also, den politischen Raum der Jetztzeit zu öffnen, nicht den Beginn eines linearen Prozesses der Machtaufhäufung oder die Festigung einer Verfügungsgewalt.
Damit ist Macht ein Vermögen, das nicht abgegeben werden sollte. Im Unterschied zu Machttheorien der Klassiker der Moderne argumentiert sie: Macht sei gerade nicht jenes Vermögen, das die Bürgerinnen und Bürger an ihre Repräsentanten abgäben, sondern der Raum eines gemeinsamen Handlungsvermögens.
So kann Macht einerseits zielgerichtetes gemeinsames Handeln sein, aber außerhalb dieses Handelns ist es bloße Möglichkeit: etwas, das existiert, aber verwirklicht werden will. Ein symbolischer Raum, der vorhanden ist, aber in die Wirklichkeit gehoben werden will.
Da Macht für Arendt nicht an sich gut ist, sondern eine Handlungsmöglichkeit, die aus dem Zusammenwirken von Menschen entsteht, ist es folgerichtig, zu argumentieren, daß Macht in jedem Gemeinwesen präsent sei, auch in der Tyrannis und in totalitären Staaten, insofern, als diese zum einen nicht ohne eine gewisse Unterstützung durch die Bürger existieren können 9 und zum anderen die Möglichkeit des Volksaufstands in sich bergen. In ihren Untersuchungen zu Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft erscheint Macht in pervertierter Form, als Gegenteil jener Potentialität von gemeinsamem Handeln, als das sie Macht in republikanischem Sinne umschreibt. Alle ihre folgenden Texte handeln von politischer Macht, immer in Zusammenhang mit Freiheit, mal im Kontext der europäischen und amerikanischen Revolutionen, mal als Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Politik. Macht bedarf keiner Rechtfertigung, da sie allen menschlichen Gemeinschaften schon immer inhärent ist. Hingegen bedarf sie der Legitimität. Damit grenzt sich Arendt gegen den Einwand ab, Volksbewegungen, auf die sie ihren Machtbegriff ja bezieht, seien willkürliche Bewegungen, in denen Macht und Gewalt immer zusammengingen und die sich nur gegen etwas richteten, aber im Grunde keine öffentlichen Ziele hätten. Volksbewegungen benötigen also Legitimität; diese stammt»aus dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt«. 10 Arendt bindet die Legitimität an die Gründe, die zum Entstehen der Bewegung führen, mit anderen Worten: es handelt sich weder um Selbstrechtfertigungen noch um das bloße Faktum des Unterstütztwerdens, sondern um die Legitimation, die aus dem Prozeß und den Beziehungen, die er innerhalb der Bürgergemeinschaft freisetzt, selber hervorgeht. Legitimität entsteht daraus, daß Menschen sich zusammentun, um etwas Neues im politischen Raum zu gründen.
Mit dieser Umschreibung von Macht greift Arendt auf eine Tradition des Verstehens zurück, die bis in die griechische Antike zurückgeht und in der Moderne zwar noch vorhanden ist, aber in dem gängigen Verständnis von politischem Handeln keine Rolle mehr spielt. Es ist dies eine Methode, die sie in ihren politischen Arbeiten seit den fünfziger Jahren verwendet. Auf sie trifft man, ob man nun ihrem Verständnis von Freiheit nachgeht oder sich mit dem Konzept des öffentlichen Raums oder der Autorität beschäftigt. Immer greift sie in großem Bogen zurück auf jenes von Aristoteles beschriebene Stück Geschichte politischer Gemeinschaft. Es ist, als ob sie ständig den Drang verspürt hätte, aus der Festigkeit des modernen politischen Denkens, die sie als Festgefahrenheit erfuhr, auszubrechen und einen Raum des Denkens wieder zu eröffnen, der inzwischen geschlossen worden war.
Was sie an der Auffassung von Gemeinwesen in der athenischen polis und der römischen civitas so interessierte, war, daß diese ein Verständnis von Macht hatten,»deren Wesen nicht auf dem Verhältnis zwischen Befehlenden und Gehorchenden beruht und der Macht und Herrschaft oder Gesetz und Befehl nicht gleichsetzt.« 11 Genau dies war aber europäische Tradition seit Jean Bodin und Thomas Hobbes.
Die Kommunikation derer, die am Gemeinwesen teilnehmen - und dies waren in der polis von Athen nicht eben viele -, habe, so Arendt mit Aristoteles, den öffentlichen Raum der Macht geschaffen, in dem der Sinn des Gemeinwesens liege. Dieser öffentliche Machtraum sei ein Raum der Kommunikation über die Verfassung, die Verwaltung des Gemeinwesens sowie über die Aufbewahrung der Erinnerung in der Pflege der Tradition gewesen.
Aristoteles hatte die Konzentration von Machtmitteln (als Verfügung über Macht) in den Händen von einzelnen in keiner der von ihm besprochenen Staatsformen ausgeschlossen, aber davon die Macht des Gemeinwesens als Raum des öffentlichen Glücks scharf getrennt. 12 Macht meinte für ihn in diesem letzten Kontext vor allem die Fähigkeit und die Befähigung, etwas in Gang zu setzen, eine Verfassung und Verwaltung einzurichten, die der Gesellschaft der Gleichen zum Guten ausschlüge. Dies aber setzte zweierlei voraus: einerseits, daß Macht nicht bei einzelnen dauerhaft beheimatet sei, sondern in den politischen Beziehungen innerhalb des Gemeinwesens präsent. Es setzte zum anderen voraus, daß diejenigen, die Macht schufen, über die materiellen Voraussetzungen einer von Sorgen freien materiellen Existenz verfügten, über einen Wohlstand, der sie unabhängig machte und frei für das Denken im Sinne des Gemeinwesens. Der Sinn dieser Eingrenzung - der Frauen und Sklaven ausschloß - war, alle Bereiche des Lebens auszuschließen, die von Abhängigkeiten und von eigennützigen Interessen geprägt waren. Auch in der römischen Staatslehre wird noch klar zwischen potestas als Verfügungsgewalt und potentia als die Machtmittel unterschieden.
Dieses Verständnis von Gemeinwesen wird in der Neuzeit vereinzelt aufgegriffen und - wie Arendt nicht müde wird zu betonen - in der Amerikanischen Revolution auch in politische Macht umgesetzt. Unvergleichlich stärker auf dem europäischen Kontinent ist jedoch die Identifizierung von Staat und Gemeinwesen geworden, bei dem Macht zentral organisiert und aus der Gesellschaft herausgenommen wird, wobei der gesellschaftliche Raum mehr und mehr als Reich der Privatinteressen verstanden wird, in dem Macht als persönliche Verfügungsgewalt über Sachen oder Menschen existiert. Die großen Antipoden in dieser Frage sind Jean Bodin und Thomas Hobbes auf der einen Seite und Charles de Montesquieu auf der anderen Seite.
Der Engländer Hobbes, aus dessen Schriften die Angst vor dem Rückfall in den Bürgerkrieg sprach, dessen Zeuge und Opfer er war, wollte Macht ganz aus dem Bereich der Gesellschaft hinausnehmen und auf den Herrscher konzentrieren. Den gesellschaftlichen Handlungsraum ordnete er der zentralen Ordnung völlig unter. Um die Gesellschaft, deren Mitglieder er für wilde Wesen (und nicht von Natur aus für gut) hielt, zu zivilisieren, verordnete er ihr eine Roßkur: Die Interessen der Mitglieder dieses Gemeinwesens wurden zurechtgestutzt auf die Verfolgung ihrer privaten Besitzinteressen. Politische Macht verstand er als Ansammlung von Machtmitteln auf einen Herrscher-Souverän, an den die Bürger ihre Macht abtreten und der ihnen dafür Sicherheit voreinander garantieren sollte. Politisches Handeln wurde so weitgehend ausgeklammert aus der Sphäre der Bürger. Freiheit reduzierte sich in seinem Verständnis auf die Dimension der Sicherheit des Besitzes. Hobbes zielte damit klar auf jene Variante des zentral organisierten Nationalstaats, wie er die europäische Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert prägen sollte. In seinem Denken wird jenes antike Verständnis von Macht als gleichbedeutend mit Chaos und Bürgerkrieg interpretiert. Mit Hobbes rückt aber auch der Machtbegriff in die Nähe des Gewalt- und des Herrschaftsbegriffs und befestigt damit eine Tendenz, die sich später im politischen und im wissenschaftlichen Sprachgebrauch durchsetzt. Macht wird gleichgesetzt mit absoluter Autorität und Souveränität derer, die über das Gewaltmonopol verfügen. 13
Auch Montesquieu setzte an der Furcht vor der Anarchie und an dem Sicherheitsverlangen der Bürger an. Aber im Unterschied zu Hobbes oder Bodin ging Montesquieu davon aus, daß Macht und Freiheit zusammengehören. 14 Der entscheidende Unterschied zu Hobbes ist jedoch, daß jener die Sicherheit aus der Unterwerfung und dieser sie aus der gemeinsamen, freiwilligen Selbsteinbindung der Bürger in ein von ihnen geschaffenes Gesetzeswerk gewinnen will, dessen Kräfte sich ergänzen, aber keine die andere zugunsten der Konzentration von Verfügungsgewalt zurückdrängen will. Die Gesetze, schreibt Hannah Arendt,»die nach Montesquieu die freien und gesetzlosen Individuen zu Bürgern machen, sind (...) von Menschen geschaffene rapports, Beziehungen, die, da sie die veränderlichen Verhältnisse sterblicher Menschen betreffen (...) notwendigerweise allen eintretenden Zufällen unterworfen sind und sich in dem Maße ändern, wie sich der Wille der Menschen ändert.« 15 Eben diese gesetzlichen Beziehungen der Menschen zueinander bezeichnen die Macht eines Gemeinwesens. An Montesquieu knüpft Arendt an, weil sie im Esprit des Lois einen Widerschein jener Selbstbeschreibung der griechischen polis erblickt, die sich in Aristoteles' Politeia findet. Natürlich bedeutet dies auch ein anderes Verständnis von Gesetzen. Gesetze und Verfassung werden von Arendt, Aristoteles folgend, nicht als Begrenzung der Handlungsfreiheit der Bürger, sondern als Eröffnung eines Handlungsraums angesehen. 16
Da Macht nicht Verfügungsgewalt, sondern gesellschaftliches Beziehungsnetz ist, muß ihre Ausübung und Präsentation plural organisiert sein. Macht kann nicht, lautet Arendts These, zentral organisiert oder gar zentralisiert werden, dann geht sie verloren. Sie hat nur dann eine Chance, wahrgenommen und verwirklicht zu werden, wenn sie horizontal und plural organisiert ist.
Macht ist damit keineswegs nur eine symbolische oder eine spontan sich organisierende Größe. Sie benötigt einen Erscheinungsraum, in dem sich Handeln zeigen und organisieren kann, andererseits ist sie ein sehr realer Vorgang, der in institutionellen Formen stattfindet bzw. in diesen verkörpert ist. Diese verlängern quasi den Zustand der gemeinsamen Verpflichtung der Bürger zum Gemeinwesen.»Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung des ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat.« 17 Alle Macht fließt also in Institutionen ein, die jedoch nur dann zum Wohle der Gesellschaft wirken, wenn sie von der lebendigen Machtunterstützung zehren. Sobald sich diese zurückzieht, erstarren sie, werden bürokratisch.
Macht hat insofern ein doppeltes Antlitz: Sie kann public happiness sein,»das Glück des Öffentlichen« 18 - oder sie kann entleerte, erstarrte Macht sein.
Mit diesem Verständnis befindet sich Arendt in Widerspruch nicht nur zu Thomas Hobbes und Jean Bodin, sondern erst recht zu Karl Marx und Max Weber.
Max Weber, der große Nationalökonom und Soziologe an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, hatte den politischen Machtbegriff einerseits entideologisiert, indem er ihn aus dem Wertehorizont des Nationalismus herausnahm und zu einem analytischen Instrument machte. Ja, er schien ihn geradezu zu demokratisieren, indem er ihn wieder in die Gesellschaft hineinnahm. Über Macht konnten für Weber nicht nur Staaten, sondern auch Individuen verfügen. Mit seiner Formulierung, Macht sei die»Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«, instrumentalisierte er ihn jedoch zugleich und rückte ihn in die Nähe des Gewaltbegriffs. Diese Individualisierung (und Personifizierung) der Macht aber lehnt Arendt ab. Sie erblickte darin eher den Verlust einer Denk- und Handlungsdimension als einen Gewinn. Die Instrumentalisierung der gesellschaftlichen Macht auf zentrale Verfügungsgewalt über Organisationen oder Personen bedeutete für sie eine enorme Beschneidung des politischen Denk- und Handlungshorizonts. Aus diesem Grunde wendet sie sich auch scharf gegen Webers Gleichsetzung von Macht mit Verfügung über Machtmittel. Darin verschwände dann zugleich die Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt, argumentiert sie. Macht sei eben nicht instrumentell, sie sei kein Mittel zu einem Zweck, sondern ein Akt der politischen Gründung - und damit selbst ein Zweck.
Mit dieser Unterscheidung zielt Arendt zugleich gegen die weitaus wichtigere Webersche Konzeption von Herrschaft. Herrschaft war für Max Weber die Grundlage der Charakterisierung von politischen Ordnungen. Wie Herrschaft organisiert sei in Staaten, das zeichne ihre politische Organisation aus, so seine These. In der amerikanischen Aufsatzsammlung Between Past and Future schreibt Arendt, ihre Kritik gelte dem»Herrschaftsbegriff der klassischen politischen Theorie, den die Staatswissenschaften auch heute noch für den zentralen Begriff der Politik halten. Ich bin der Meinung, daß die Rückführung aller menschlichen Tätigkeiten auf das Arbeiten oder Herstellen und die Reduzierung aller politischen Verhältnisse auf das Herrschaftsverhältnis nicht nur historisch nicht zu rechtfertigen sind, sondern in verhängnisvoller Weise den Raum des Öffentlichen und die Möglichkeiten des Menschen als eines für Politik begabten Wesens verkrüppelt und pervertiert haben.«19
Der Kritik der Marxschen These, daß alles menschliche Leben und alle gesellschaftlichen Beziehungen auf den Wert der Arbeit (und der Praxis) zurückzuführen seien, widmet sie ihr Buch Vita Activa. Gegen diese Verengung des politischen Denkens versucht Arendt jene gedanklichen Linien wieder in den Vordergrund zu rücken, die von Aristoteles über Montesquieu zur Amerikanischen Revolution führen. In der Amerikanischen Revolution sieht Arendt das Erbe der griechischen polis und der römischen civitas aufbewahrt, und dies nicht nur deshalb, weil die amerikanischen gründenden Väter, wie sie sie nennt, in alten Archiven auch nach griechischen und römischen Quellen suchten, sondern weil in dieser Revolution, klarer als bei ihrer französischen Schwester, wirklich jener politische Machtraum neu eröffnet und verfassungsmäßig verankert worden sei. Es ist hier nicht der Ort, um näher auf Arendts Verständnis von politischer Revolution einzugehen, deren Urform sie in der amerikanischen sah. Wichtig für Arendts Verständnis von Macht ist jedoch, daß die amerikanischen Verfassungsväter sich explizit von der europäischen Tradition, Macht mit zentraler Autorität und Souveränität gleichzusetzen, absetzten und ein dezentrales, föderales Machtgefüge konstituierten. In diesem hatte die Zentrale ein ebenso starkes Interesse an der Stabilisierung der einzelnen Republiken wie die einzelnen Staaten an der Aufrechterhaltung des gesamten Machtgefüges, um ein Übergewicht einzelner Staaten (oder der Bundeszentrale) zu verhindern.
Wie Aristoteles schließt auch Arendt nicht aus, daß es Machtpervertierung und Machtmißbrauch gibt:»Ungeteilte und unkontrollierte Macht kann eine Meinungskonformität erzeugen, die kaum weniger zwingend ist als gewalttätige Unterdrückung.«20 In diesem Falle wird Macht ohnmächtig, d.h. sie löst sich selbst auf - und öffnet der Gewalt Tür und Tor. Das deutlichste Beispiel hierfür ist für Arendt die Französische Revolution. 21
Der vielleicht interessanteste, wenngleich unausgearbeitete Aspekt ihrer Erörterungen über gesellschaftliche Machtentstehung und Machtausübung aber ist, daß sie diesen Begriff an die Stelle des klassischen Souveränitätsbegriffs setzen will, der in der europäischen politischen Theoriegeschichte eine so zentrale Rolle spielt. Von Bodin über Hobbes und Rousseau bis hin zu Carl Schmitt ist politische Macht gleichbedeutend mit Souveränität.»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand herrscht.« So lautet der erste Satz von Carl Schmitts Abhandlung Politische Theologie (1922). 22 Schmitt setzt die Tradition Bodins und Hobbes' fort und identifiziert den Souverän mit dem zentralen Entscheidungsgeber. Die entscheidende Beweisprobe für die Souveränität ist für Schmitt der Krieg und somit die Fähigkeit, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. 23 Schmitts ganzes Wirken richtete sich auf die Verteidigung dieser Bastion europäischen politischen Denkens: Politik, Staat, Macht, Gewalt, Herrschaft und Souveränität sind auf eine Instanz konzentriert, auf die des höchsten Staatsführers, der zugleich die letzte Entscheidungsgewalt innehat. Da Schmitt den Prozeß der Säkularisierung seit dem 17. Jahrhundert als Differenzierungsprozeß und letztlich als Bedrohung der einheitlichen staatlichen Organisation und die Entstehung der Massengesellschaft und des Liberalismus als deren Zerstörung ansieht, gilt sein Denken der Rettung, Bestätigung und immer wieder neu begründeten Legitimation dieser obersten Instanz. Seine Werke variieren immer wieder das gleiche Thema: Wie ist gegenüber der säkularen Massengesellschaft (worunter Schmitt die Dominanz der Gesellschaft gegenüber dem Staat versteht) die Einheit des Staates zu wahren und die Souveränität zu retten?
Arendt hingegen fragt: Wo sind in der Moderne Elemente, die jene Wunderkammer der Antike wieder öffnen, in der ein nicht auf Gewalt fixiertes Verständnis von Gemeinwesen und Staat möglich war?»Der einzige Ansatz, den ich für einen neuen Staatsbegriff sehe, würde im föderalistischen System liegen, dessen Vorteil darin besteht, daß Macht weder von oben noch von unten, sondern gleichsam horizontal kontrolliert und in Schach gehalten wird.« 24
< Die Staatsform, die sich aus einer horizontal organisierten Macht ergibt, ist der amerikanische Verfassungsstaat - oder das Rätesystem. In einem Rätesystem finde Politik in einem öffentlichen Raum statt, innerhalb dessen eine Art Selbstausleseprozeß beginne, der die Bildung einer Elite begründe. Einem solchen Staat sei das Souveränitätsprinzip fremd. 25 Bedeutsam ist dieser Aspekt nicht nur wegen ihres Rückgriffs auf das Rätesystem, dem sie trotz seiner nur rudimentären Geschichte große Bedeutung beimißt. Überaus aktuell ist dieser Gedanke, weil sie hier die Trennung zwischen Oben und Unten, zwischen Innen und Außen, deren Träger ja der Souveränitätsbegriff ist, aufbricht.
Rosa Luxemburg, an die sich Hannah Arendt in ihrer Wertschätzung der spontan entstehenden Räte anlehnt, hat den Erfolg dieser neuen Organisationen von Macht an deren dauernde Bewegung geknüpft. Sehr viel radikaler noch als Arendt sah sie in der Institutionalisierung von Macht zugleich das Ende deren basisdemokratischer Legitimität. Aber ihr Rätekonzept blieb andererseits dem dichotomischen Denken des Kampfes der Klassen verhaftet. Nur vereinzelt finden sich bei ihr Hinweise, daß die neue Gesellschaft auch eine neue Art des kommunikativen Handelns freisetzen sollte. 26 Durchgehend aber hält Rosa Luxemburg an der conditio sine qua non fest, durch eine gewaltsame Revolution die Macht erringen zu müssen, die die Räte dann organisieren sollten. Dahinter steht freilich eine Vorstellung von Macht, die diese mit Herrschaft (Gegen-Herrschaft) und Gewalt (Gegen-Gewalt) gleichsetzt.
Was Arendt jedoch an den Räten interessiert, ist nicht so sehr deren theoretische Interpretation oder ihre Funktionalisierung (vor allem in der russischen Revolution von 1917), sondern jenes Element, das sie in der griechischen polis und auch in der Amerikanischen Revolution so fasziniert hatte: die Volkserhebung zur Stiftung einer neuen politischen Ordnung, den Beginn eines neuen Anfangs, vermittelt durch den historischen Zufall einer Volkserhebung. Sie sah in dem Akt der Rätegründung die Verkörperung für die Eröffnung des politischen Raums, in dem die Macht wie ein ungehobener Schatz verborgen lag. Hannah Arendt hat nicht Rousseaus egalitäre Brüderschaft der Bürger und auch nicht die Kameradschaft des Schlachtfelds im Sinn. Nach ihrer Vorstellung gründet die Entstehung von Macht auf hoher Reflexion, auf Vertrauen, auf komplexer Organisation (s. die Idee der Selbstauslese der Elite) und auf einem das Handeln begründenden Bündnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern. Sie stellt sich einen Zustand der reflektierenden Selbst-Mobilisierung vor, der von Zeit zu Zeit wiederholt werden kann. Daß dies eine sehr eigenwillige Interpretation der historischen Räte ist, ist augenfällig. Aber Arendt hielt die Räte für eine langlebigere Form als ihre Funktionalisierung durch Leninismus und Stalinismus. Und sie hatte dafür gute Gründe. Nicht zufällig bezieht sie sich auf den ungarischen Volksaufstand von 1956 und den Prager Frühling von 1968, um ihre These zu veranschaulichen, daß die Idee der Macht nicht verschwunden, sondern nur verborgen sei. In beiden Volksbewegungen erschienen für sie die Umrisse einer politischen Organisation von Gesellschaft gegen den zerstörerischen Zugriff totalitärer Ordnungen. Sowohl die ungarische Revolution von 1956 wie der Prager Frühling von 1968 (wie auch erst recht später die polnische Solidarnosc-Bewegung, die Arendt nicht mehr erlebte) verbanden die Selbstorganisation der Gesellschaft mit dem Akt ihrer Neugründung. Zustimmend zitiert sie den Schriftsteller Pavel Kohout, der die Bürgerinnen und Bürger der CSSR, die 1968 die alte Führung absetzten und sich in politischen Vereinigungen und in betrieblichen Räten zusammenschlossen, als Bürger-Mitregenten bezeichnete. 27 Sie weist immer wieder darauf hin, daß Macht in diesen Bewegungen nicht vertikal, sondern horizontal organisiert ist und daß sie dann wirklich wirksam werden kann, wenn sie nicht nur ein Protest gegen die gewalthaft organisierte Zwangsherrschaft ist, sondern sich selbst das Ziel ihrer gesellschaftlichen Neugründung setzt. Im Selbstbehauptungswillen einer Gesellschaft, die von totalitären Strukturen unterdrückt werde, liege gerade ihre Legitimität begründet.
¯Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent als die Gruppe zusammenhält.« 28 Genau diese Voraussetzung sieht sie im ungarischen Volksaufstand und in der Prager Reformbewegung erfüllt.
Das Thema Macht verknüpft sie auch mit den außerparlamentarischen Oppositionen der sechziger Jahre in den USA und Europa, die versuchten, die Usurpierung der Macht und des Machtbegriffs durch Institutionen des Staates in eine Vorstellung von demokratischer Gegenmacht umzuwenden. Die in diesem Kontext auftauchende öffentliche Parole der Studenten, daß Handeln Spaß mache, löst sie aus ihrem voluntaristischen Zusammenhang und interpretiert sie als Ausdruck von individuell und kollektiv erfahrenen Befreiungsakten der Gesellschaft. Dies erfülle mit Glück.
Es gibt also eine Fülle von politischen und theoretischen, von historischen und aktuellen Bezügen, in denen Arendts Gedanken zur politischen Macht in der Gesellschaft stehen. Ihre Originalität besteht darin, diese Bezüge in den Kontext eines Verständnisses von politischem Handeln zu stellen, dessen Fehlen nach 1989 besonders deutlich geworden ist. Natürlich fragt sich, ob dieses Machtverständnis, das sich an Gesellschaften in Bewegung und Gründung orientiert, auch in normalen Zeiten sichtbar werden kann. Ist nicht der Arendtsche Begriff eine allzu euphorische Verherrlichung einer kollektiven Selbstbesinnung, die nur in besonderen Situationen des Umbruchs entsteht?
Natürlich ist ein solcher Machtbegriff mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß er sich nur entfalten kann, wenn die mobilisierende Emphase des Neuanfangs, des Beginnens, wirkt. Ihr Begriff ist unabtrennbar von Zeitsprüngen, in denen die Kontinuität der Geschichte unterbrochen ist, sei es, weil alte Ordnungen sich nicht mehr behaupten können oder weil innerhalb einer Ordnung auf einen Neuanfang gesetzt wird. Genau dies ist 1989 geschehen. Eine alte, petrifizierte Machtordnung brach in dem Moment aus Schwäche zusammen, in dem sich die gesellschaftlichen Kräfte im Selbstgründungsakt gegen den Apparat von Staat und Partei behaupteten. Die Volksbewegungen in der Sowjetunion und ihren ehemaligen Satellitenstaaten eröffneten jenen Raum der öffentlichen politischen Macht wieder, auf dessen Zerstörung der Erfolg des totalitären Sozialismus beruht hatte. Eine Ironie der Geschichte ist freilich, daß die westlichen politischen Klassen diesen Raum, der dann entstand, nur als Vakuum begreifen konnten, das möglichst schnell mit der Übertragung des westlichen Repräsentativsystems gefüllt werden sollte - und die politischen Eliten in den ehemals sozialistischen Ländern folgten ihnen darin. Die Folge war, daß jener »Erscheinungsraum« der politischen Macht als Beziehungsnetz wieder verschwand.
Die Chance einer Neugründung, die von den demokratischen Bewegungen im Osten als Herausforderung an die westlichen Gesellschaften herangetragen wurde, diese Chance ist nicht ergriffen worden. Genau darin liegt jedoch die Bedeutung jenes Zeitsprungs von 1989, der eine andere Dimension von politischem Handeln in menschlichen Beziehungen sichtbar machte. Im gewohnten Umgang mit Politik als der Organisierung von Herrschaft und Verwaltung ist diese Dimension unsichtbar.

Ortignano, August 1995


Fußnoten:

  • 1 Erweiterte Fassung des Vortrags auf der Tagung Einschnitte - Das Denken Hannah Arendts, Bremen, 24. Nov. 1994. Zurück

  • 2 Vgl. Heiner Geißler: Gefährlicher Sieg. Die Bundestagswahl 1994 und ihre Folgen, Köln 1995, S. 150, 190, 251. Zurück

  • 3 Vgl. auch Antje Vollmer, Heißer Frieden. Über Gewalt, Macht und das Geheimnis der Zivilisation, Köln 1995; Freimut Duve: Der Krieg in der Seele, Frankfurt/M. 1994. Zurück

  • 4 Hannah Arendt stand zu diesen Autoren weder in einem persönlich noch in einem sachlich guten Verhältnis. Sie werden hier dennoch erwähnt, weil sie ähnlich wie Arendt den Nationalsozialismus/Faschismus als Zivilisationsbruch diagnostizierten, gegenüber dem man nicht zur Normalität zurückkehren könne. Normalität meint hier die tradierten Werte der Aufklärung. Zurück

  • 5 In Teilen der studentischen Linken kursierte seinerzeit die Parole:»Liberalismus führt zum Faschismus.« Dies war eine stark verkürzte Fassung jener These, die Max Horkheimer und viele der linksliberalen exilierten Kollegen aus dem Institut für Sozialforschung in der dreißiger Jahren vertraten, und in der sie auf das Desinteresse des weitgehend wirtschaftlich orientierten Liberalismus in Deutschland an der Aufrechterhaltung und Pflege einer demokratischen Ordnung verwiesen:»Wer vom Faschismus sprechen will, darf vom Kapitalismus nicht schweigen.« Zurück

  • 6 Vgl. Simona Forti, Vita della mente e vita della polis. Hannah Arendt tra filosofia e politica, Milano 1994, S.310. Zurück

  • 7 Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 1994, S. 45. Zurück

  • 8 Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, S. 194. Zurück

  • 9 Vgl. Arendt: Macht und Gewalt, S. 51 f. Zurück

  • 10 Ebd., S. 53. Zurück

  • 11 Arendt: Macht und Gewalt, S.41. Zurück

  • 12 Aristoteles: Politik, Schriften zur Staatstheorie, übers. und hg. von Franz F. Schwarz, Stuttgart 1989, S. 161, 175, 186 f., 206, 242, 282. Zurück

  • 13 In Deutschland erhält der Begriff noch eine besondere Prägung dadurch, daß er im 19. Jahrhundert quasi verspätet in den Sog der nationalstaatlichen Einigung gerät, in dem staatliche Anhäufung von Machtmitteln zum nationalen Wert erhoben wird (vgl. das deutsche Wort Machtstaat). Diesen Prozeß der Ent-Machtung von Gesellschaft diagnostiziert Arendt als Verlust - und nicht als Gewinn. Am Ende dieses Prozesses steht für sie der Zusammenbruch des liberalen Nationalstaats vor dem Totalitarismus. Zurück

  • 14 Vgl. Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1986, S. 192 f. Die politische Freiheit des Bürgers, schreibt Montesquieu,»ist jene Ruhe des Gemüts, die aus dem Vertrauen erwächst, das ein jeder zu seiner Sicherheit hat. Damit man diese Freiheit hat, muß die Regierung so eingerichtet sein, daß ein Bürger den anderen nicht zu fürchten braucht.« (Montesquieu: Esprit des Lois, Buch 11, Kap. VI). Zurück

  • 15 Montesquieu: Esprit des Lois, Buch 1, Kap. I; Buch 26, Kap. I und II, zit. nach Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes, Bd II, Das Wollen, München/Zürich 1978, S. 190. Zurück

  • 16 Auf diesen Aspekt verweisen Margaret Canovan: Hannah Arendt. A Reinterpretation of her political thought, Cambridge 1992, S. 209, sowie Simona Forti: Vita della mente e vita della polis. Hannah Arendt tra filosofia e politica, Milano 1994, S. 312. Zurück

  • 17 Arendt: Macht und Gewalt, S. 42. Zurück

  • 18 Ebd., S. 109. Zurück

  • 19 Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken, Bd. 1, hg. von Ursula Ludz, München 1994, S. 380. Es widerstrebte ihr auch zutiefst, einer Sichtweise wie der Weberschen zuzustimmen, die politisches Handeln schicksalhaft in Bürokratie münden sah. Beide sahen zwar Bürokratie als das Ende der Freiheit an, nur daß Arendt - im Unterschied zu Max Weber - dies eben nicht als»Schicksal« annahm, sondern als eine Verkrustung von menschlichen Beziehungen, die ihren eigentlichen Sinn, das Gemeinwesen zu stiften, verloren hätten. Zurück

  • 20 Arendt: Macht und Gewalt, S. 43.>»Monopolisierung der Macht führt zur Austrocknung oder zum Versickern aller lokalen Machtquellen des Landes, und damit letzten Endes zu einem offenen Machtverlust.« Zurück

  • 21 Ebd., S. 84. Zurück

  • 22 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1990, S. 11. Zurück

  • 23 Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Berlin 1979, S. 70ff. Zurück

  • 24 Arendt: Macht und Gewalt, S. 130 f. Zurück

  • 25 Ebd., S. 132 f. Zurück

  • 26 »Höchster Idealismus im Interesse der Allgemeinheit, straffste Selbstdisziplin, wahrer Bürgersinn der Massen sind für die sozialistische Gesellschaft die moralische Grundlage (...) Alle diese sozialistischen Bürgertugenden, zusammen mit Kenntnissen und Befähigungen zur Leitung der sozialistischen Betriebe, kann die Arbeitermasse nur durch eigene Betätigung, eigene Erfahrung erwerben.« Luxemburg erklärt hier die Erhaltung des neuen Gemeinwesens zu einer moralischen Angelegenheit; aus der Beteiligung der Bürger wird eine moralische Selbstverpflichtung. (Rosa Luxemburg: Was will der Spartakusbund, in: Dies.: Politische Schriften, 2 Bde., Bd. II, Frankfurt/M. 1955, S. 162). Zurück

  • 27 Vgl. Arendt, Macht und Gewalt, S. 82. Zurück

  • 28 Ebd., S. 45. Zurück


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